Kultur am Main
 
 

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Florian Koch hat während seines Studiums mit einem Praktikum beim Schwäbischen Tagblatt / Südwest Presse seine journalistische Laufbahn begonnen, darauf wurde er Freier Mitarbeiter für Lokale Kultur und schrieb Buchbesprechungen, Filmkritiken und Theatertexte. Bei Zeitschriften wie Chronos oder Listen, aber auch in der Wochenzeitung Rheinischer Merkur veröffentlichte er danach Reise-Essays, Interviews und Artikel mit kultureller Ausprägung. In Frankfurt war er Mitbegründer der Zeitschrift BÜCHNER und schreibt seither auch für das Kulturmagazin 069 und für www.faust-kultur.de

Seit etwa einem Jahrzehnt macht Florian Koch eigene abstrakte Bilder, die an besonderen, oft magischen Orten entstehen. Den Bildern wohnt ein besonderer Zauber inne, sie wahren das Geheimnis, lassen beim Betrachten Fragen entstehen und laden nicht selten ein zur Kontemplation.

JOURNALISMUS

REISELITERATUR

 

 
   DREI BEISPIELE JOURNALISMUS: Reiseessay, Veranstaltungshinweis, Interview.

Ayurveda im Test: Wie Körper und Seele in drei Wochen gesunden können
Eine Einkehr von Florian Koch

Wie kommt es eigentlich, dass in letzter Zeit Ayurveda in aller Munde ist? An den Indern und den Sri Lankern liegt es jedenfalls nicht, ist die plötzliche Mode doch nichts als ein Affekt des Westens, der ganz gut in die gegenwärtige Wellness-Ära passt. Der klassische Ayurveda umfasst das gebündelte Wissen von Weisen, deren Tradition viele Jahrhunderte vor dem Bau der Pyramiden begann und von Generation zu Generation weiterentwickelt wurde. So ist auf dem indischen Subkontinent und auf der benachbarten Insel Ayurveda entsprechend nichts Exotisches, sondern die allgemeine Medizin, vielleicht am ehesten mit dem vergleichbar, was wir hierzulande als Omas Hausrezepte kennen. Kräuterkundig ist aber nicht nur die Alte, sondern es sind auch die Kinder und Kindeskinder, sie erkennen die Bäume und Büsche, die Heilkräuter hergeben, und begleitet man ein krankes Familienmitglied ins Krankenhaus, so bringt man in Sri Lanka Medikamente mit ins Hospital, die man am Wegrand sucht – und findet. Auch wenn sie nicht für den eingelieferten Patienten nutzbar sind, so werden sie von der Krankenhausleitung gerne angenommen, denn jedes Hospital mischt, rührt und verpackt die etwa 700 gängigen Kombinationspräparate selbst. Jeder Bürger des Landes wird kostenfrei im Ayurveda-Krankenhaus behandelt, und das ist schon deshalb erstaunlich, weil Ayurveda in der Regel drei Tage braucht, bis die Mittel wirken. Die westliche Medizin hätte aus Kostengründen längst zum Antibiotikum gegriffen.

Dass in Asien die medizinischen Uhren grundsätzlich anders ticken als in Deutschland, dass kann man sofort feststellen, wenn man sich für drei Wochen in einer Ayurveda-Einrichtung einfindet – für die meisten Kenner die Mindestzeit des Aufenthaltes. Ich habe das Experiment gewagt: An der Südspitze von Sri Lanka in Kottegoda, unweit der größeren Stadt Matara, in einer von Deutschen betriebenen Anlage namens Vatters Garden. Rein optisch öffnet sich mit der Eingangspforte ein kleines Paradies, mit über 100 Kokospalmen, blühenden Bäumen und dem Blick auf einen herrlichen Strand und den Indischen Ozean. Die maximal zwanzig Gäste sind in kleinen Pavillons untergebracht, die praktisch-funktional und doch asiatisch sind, was an den pagodenartigen Spitzen der Behausungen liegt. Im Garten leben Varane und bunte Vögel, auch zwei Affen machen ihre Faxen hinter Gittern, die Katzen sind anschmiegsam, denn sie wurden mit dem Fläschchen großgezogen. Gegen die unliebsamen Gäste wie Skorpione haben sich die Hunde verschworen. Der Ort strahlt eine Aura aus, die sogleich ein Wohlgefühl vermittelt – hier sieht es so gar nicht nach Klinik aus, ebenso wenig wie im Ayurveda Krankenhaus, dass wir an einem Vormittag in der Nähe besuchen – hier klingt sanfte Musik über die Gänge, die Gesichter der Patienten waren freundlich und geduldig, und es liegt in malerischer, sattgrüner Landschaft.

Das ist das Prinzip von Ayurveda: Die fünf Sinne leiten ständig Signale an den quantenmechanischen Körper weiter, und jedes Signal wird von uns umgewandelt und als Erinnerungsbild, als Klang oder Geruch abgespeichert. Wenn uns das, was die Sinne sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken, an Krankheit erinnert, so wird etwas Ungesundes aufgenommen. Mit vollem Atem nimmt man auf der idyllischen Insel Sri Lanka die positive Energie auf, schon beim gemeinsamen Yoga ab halbsieben in der Frühe, zu dem sich in dieser gelösten Atmosphäre auch Anfänger schnell zu Begeisterten entwickeln. Körper und Geist harmonieren, und so wird auch die Seele ausbalanciert. Meditation, die von dem hinreißenden, 62jährigen Garvin in perfektem Englisch angeleitet wird, hilft nach der körperlichen Aufwärmung leicht zu sich selbst. Im Garten oder am Strand wird mit Hilfe der mächtigen Geräuschkulisse des Indischen Ozeans, dessen Wellen unermüdlich die Küste erreichen, das eigene Krankheitsbild ins Positive gewendet: Die Krankheit und die Schmerzen und Leiden atmen wir aus, die frische blaue Luft und die positive Energie und die Schwingung des Ortes atmen wir tief ein – mit einer solchen Morgenübung verselbständigt sich das positive Denken. May all beings be well and happy, all the plants and animals, all the poor and disabled people, haben wir immer wieder von unserem charmanten Lehrer gehört, und wirklich, nach drei Tagen an einem solchen Ort steigt die Toleranz und die innere Ruhe, bald will niemand mehr eine Mücke erschlagen.

Verwöhnt werden die Sinne weiter durch ein vielfältiges und facettenreiches Nahrungsprogramm. Nach Yoga und Meditation erwartet den Gast ein bunter Obstteller mit Papaya, Mango, Minibanane, Melone, Holzapfel und Limone, aber auch unbekanntere Früchte wie Mangosteen und Rambutan wollen entdeckt werden. Danach werden mal Milchreis mit Sirup, Kichererbsen oder schwarze Bohnen mit Kokosstückchen oder Teigteller mit Honig gereicht. Nach der eingehenden medizinischen Erstuntersuchung, bei der von den Lebensgewohnheiten über die Verdauung bis zur Lieblingsfarbe nahezu kein Thema ausgeklammert bleibt, wird der Speiseplan auf den Patienten zugeschnitten, der Koch spricht sich täglich ausführlich mit dem Sri Lankesischen Ärzteteam ab, dass Anwendungen, Medikation und Nahrung nicht den leisesten Widerspruch in sich haben. So kann es beim Buffet des Mittagessens vorkommen, dass der Arzt den Dal oder den seltenen Fisch oder das exotische Gemüse, das man noch gestern essen durfte, plötzlich untersagt. Als Patient durchläuft man mehrere Behandlungsphasen, und was in der Einleitung gut war, kann in der Ausleitungsphase plötzlich kontraproduktiv sein. Da gilt es, sich ganz an die Anweisungen des Ärzteteams zu halten, stehen sie doch bei der Einhaltung für eine Nachhaltigkeit, die die westliche Medizin nie hinbekommt, weil sie in aller Regel nur Symptome bekämpft, immer erst eingreift, wenn die Krankheit schon ausgebrochen ist. Ayurveda hilft dafür zu sorgen, dass die schwere Krankheit gar nicht ausbricht, weil Medizin und Anwendungen einen solchen Entschlackungs- und Regenerationsprozess herbeiführen, so dass die Zellen eine nie da gewesene Grundreinigung erhalten. Die beiden Kernziele des Arztes lauten: Er will Ama ausleiten, und er will die Doshas ausbalancieren.

Ama ist nichts anderes als die Schlacken und Gifte, die sich im täglichen westlichen Leben zwischen den Zellen angesammelt haben. Diese gilt es durch Ölmassagen, die von Kopf bis Fuss reichen, sowie durch Ölstirngüsse, Schwitzbäder, Kräutereinläufe und Inhalationen oder, leider etwas unangenehm, durch Nasenspülungen loszuwerden oder – wie anderen Schmutz – abzuwaschen. Aber wie befreit sich der Kopf nach einer Nasenspülung zur rechten Zeit anfühlt, und wie erhebend, ja geradezu beflügelnd ein morgendlicher Stirnguss, der sogenannte Shirodhara, sein kann, dass erlebt der zunächst verdutzte und bald schwärmende Patient eins ums andere Mal. Es ist so eine Mär von Häusern mit schlechter Ayurveda-Imitation in Deutschland, dass jeder Patient den ganzen Tag Ghee trinken muß und jeder Zweite mit Süssholz zum Brechen gebracht oder zum Aderlass mit Blutegeln gebeten wird. In kundiger Hand auf Sri Lanka passiert das so gut wie nie. Jeder Patient erhält die ihm gemäße, humane Therapie. Wenn gegen Ende der Kur die schädlichen Körpersäfte dann ausgeleitet sind, fühlt sich der Patient leichter und jünger und frischer als zuvor. Und er merkt noch mehr: Besserer Schlaf, ruhigere Träume, reduziertes Schwitzen und überraschend aufblitzende Glücksgefühle.

Vata, Pita und Kapha sind die drei Doshas. Jeder Mensch kommt mit einer bestimmten Dosha-Konstellation zur Welt und sollte seine Lebensweise nach diesem, ihm innewohnenden Energiefeld ausrichten. Die Doshas haben sogar einen Sitz im Körper: Vata (zuständig für das Nervensystem) sitzt im Dickdarm, Pita (regelt den Stoffwechsel) in Dünndarm, Bauchspeicheldrüse, Leber und Galle, während Kapha (Lunge, Rücken) hauptsächlich im Magen und im Brustkorb sitzt. Während der Ayurveda-Kur wird der Anfangsverdacht, welchem Typus man entspricht, überprüft und gleichzeitig werden die zu hoch oder zu niedrig stehenden Doshas in Einklang gebracht. Am Ende hat man seinen genauen Typ und wertvolle Ratschläge des Arztes, welche Nahrungsmittel nun gut oder weniger förderlich für diesen einen spezifischen Organismus sind. Ein genauer Speiseplan für das Leben in Deutschland wird erarbeitet, an den man sich nicht akribisch halten muss, aber die Information, dass z.B. die Kohlfamilie dem Körper nicht so nützlich ist, wohl aber Kürbis und Bohnen, dass Reis einem besser bekommt als Kartoffeln, kann man ja gezielt ausprobieren und gegebenenfalls (bei anhaltendem Wohlbefinden) wirklich fest in seinen Gewohnheiten verankern. Fest steht, dass trotz Abwesenheit eigentlich nichts fehlte in Sri Lanka. Kein Fleisch und kein Alkohol und kein Tabak, ja nicht einmal Kaffee oder Süßigkeiten. Anwendungen und Kost, Atmosphäre und Umgebung sind so raffiniert auf die Körperseele abgestimmt, dass einfach nichts fehlt.

Zurück in Deutschland, weiß man dann doch wieder das Glas Wein oder den Zwetschgenkuchen zu genießen, aber man tut es anders, bewusster und gleichzeitig aufgeklärter als zuvor. Ein gesunder Mensch sollte mit zweijährigem Abstand noch zwei dreiwöchige Kuren wiederholen, dann können ihn nach Ayurveda-Philosophie (er muß freilich auch einigermaßen vernünftig leben) keine schweren Krankheiten im Leben mehr heimsuchen. Wenn das die Krankenkassen wüssten, wie ein so simples System wie Ayurveda, dass ihnen nicht geheuer ist und das zu fördern sie sich weiterhin erfolgreich sträuben, die Krankheiten gar nicht zulässt – und was mit Prophylaxe statt westlicher Hämmer für Kosten einzusparen sind ... Aber es fehlen die nötigen Langzeitstudien, und so bleiben wir realistisch: Die wirklich wichtigen Dinge im Leben muss man immer selber machen und bezahlen. Eine Ayurveda-Kur gehört für mich nun dazu.

Ayurveda gibt einem bewusst lebenden Menschen das Gefühl für das Essentielle, und also auch für einen gesunden Lebenswandel zurück – durch Genügsamkeit, Wissensdurst und Versenkung. Die Bäder im Indischen Ozean, die Meditation im Rhythmus der Wellen am mückenfreien Strand, die köstlichen, scharf gewürzten Abendessen in der Dämmerung mit Meeresblick, die durchgreifenden Nackenmassagen oder die Synchron-Beinmassagen, die morgendliche beruhigende Gandhara-Musik aus dem benachbarten Kloster – noch ein paar Gedanken mehr an diese wundersamen Wochen auf der paradiesischen Insel, und das Reisefieber packt mich wieder. Das Beste an dieser Kur ist: Sie fühlt sich wie der schönste Urlaub an, und revolutioniert wird nebenbei die Körperseele.

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Das Plattenlabel ECM in Frankfurt – ein Ereignis

Seit fast 40 Jahren produziert der Münchener Musikverleger Manfred Eicher herausragende Platten auf seinem Label ECM. Keith Jarretts Kölnkonzert, Arvo Pärts meditative Klänge, Ketil Björnstedts sinnliche Klaviermusik – die Liste der Meisterwerke zwischen Jazz, Klassik und Neuer Musik ist mehr als tausend Plattennummern lang, für diese Ansammlung an Hochkarätigem (und ständig Lieferbarem!) genießt Eicher Weltruhm. Mitte September wurde Frankfurt mit einem dreitägigem ECM-Festival Spuren beschenkt. Spuren, das ist nicht nur als Buch aus dem Jahre 1969 der beste Einstieg ins Werk des Philosophen Ernst Bloch, sondern hinter dem Begriff verbirgt sich die Mehrdimensionalität der Publikationen auf dem Plattenlabel. Spuren in die Filmgeschichte galt es beim Festival zu betreten, und zwar zu Tarkovski, zu Angelopoulos und zu Pasolini. Eicher verbindet Freundschaften mit vielen Regisseuren (z. B. dem verstorbenen Ingmar Bergman und Jean-Luc Godard), Filmmusik, die von großen Regisseuren inspiriert ist, nimmt mittlerweile einen großen Platz bei ECM ein. Es gab drei Konzerte in der Alten Oper: Bei dem griechischen Regisseur Theo Angelopoulos stand der norwegische Saxophonist Jan Gabarek im Mittelpunkt, der als Zugpferd taugte und den großen Saal füllte. Die eigentlichen Entdeckungen aber gab es im Mozartsaal: Der Komponist François Couturier (am Piano), der sich mit seinen beiden nachhaltig empfehlenswerten Platten mit dem tunesischen Oud-Meisterspieler Anouar Brahem bereits in die Musikgeschichte eingeschrieben hat, brachte mit Cello (hinreißend Anja Lechner), Sopransaxophon (pointiert Jean-Marc Larché) und Akkordeon (traumwandlerisch Jean-Lois Matinier) die Stille, Melancholie und Einsamkeit von Tarkovskis Werk inspirierend ins Bewusstsein. Tagelang aber klang noch die Hommage an Multikünstler Pier Paolo Pasolini von Stefano Battaglia nach: Neue Musik auf einem neuen Level, eine Verschmelzung von Klassik und Jazz, von akzentuiertem Ton und imaginiertem Bild, ja von Gefühl und Intellekt. Der Pianist Battaglia hat mit Roberto Dani einen so außerordentlichen Schlagzeuger mitgebracht, dass es Ovationen für den bescheidenen Italiener aus der Nähe von Venedig gab. Er begreift sein Instrument als kleines Orchester und entlockt dem im Konzert ständig veränderten und ausgebauten Instrument ein solches Spektrum an Klängen, ist dabei so nuanciert und virtuos, und er betätigt sich dabei an seinem Instrument einem Tänzer gleich so geschmeidig, dass Dani als die Entdeckung von Spuren gelten muss. Er ist ein ganz Großer, im Oktober bringt er als Schlagzeuger (!) seine erste Soloplatte heraus. Ehre für Frankfurt und Schande zugleich: Im Mozartsaal fanden sich kaum mehr als 80 Zuhörer ein. Wiedergutmachung bietet sich im Frühjahr an. Da steht die zweite Ausgabe von ECMs Spuren unter dem Thema Musik und Literatur an. Ein Muss!

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Ich musste feststellen, die alten Dichter sind brandaktuell...
Ein Interview mit Achim Reichel

Achim Reichel ist berühmt, seit er in den 60er Jahren mit den Rattles als Vorgruppe zu den Beatles im Starclub zu Hamburg spielte. Seither hat er etliche deutschsprachige Rockalben vorgelegt und war geistiger Mentor für viele deutsche Musiker. Reichel ist mittlerweile bei einer eigenwilligen, wundersam klingenden Weltmusik angelangt. Bereichert wird seine Band durch Musiker und exotische Instrumente aus aller Welt. Der 1944 als Sohn eines Hamburger Seemanns geborene Musiker tritt mit seiner neuen Produktion Wilder Wassermann den Beweis an, dass alte germanische Volksmythen, von Goethe, Heine oder Storm überliefert, bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben. Mit kerniger Stimme und einem untrügbaren, experimentierfreudigen Taktgefühl interpretiert er klassische Texte neu. In den Geschichten der alten Meister klingen irische Traditionen ebenso an wie Blues- und Cajuneinflüsse, heitere Polka oder Ska-Rhythmen. Reichel gelingt es sogar, Zugang zu schaffen zu bisher eher vernachlässigten Dichtern wie Eduard Mörike. Die bei Wea Record erschienene CD Wilder Wassermann ist eine Überraschung in vielerlei Hinsicht. Wir vertiefen uns in diese Platte, so wie wir ja auch nicht von Heine lassen wollen, hat er uns einmal in seinen Bann gezogen. Dem Rockveteranen ist das Originellste gelungen, was wir seit langem von Musikern gehört haben, die sich an die Klassiker herangewagt haben.

Florian Koch hat mit Achim Reichel in Frankfurt gesprochen.


Herr Reichel, mit Ihrer Platte Wilder Wassermann steigen Sie tief hinab in den Keller der Literaturgeschichte. Mussten Sie die Texte, die Sie verwenden, stark abstauben?

Das Abstauben hat die Musik selbst besorgt. Die Kombination von alten Texten mit neuer Musik macht deutlich, dass es sich um eine zeitlose Wortkunst handelt. Die Themen, die die Dichter angepackt haben, sind heute noch brandaktuell. Mich fasziniert an den Dichtern des 18. und 19. Jahrhunderts, dass sie mit Worten Musik machen konnten. Das führe ich organisch weiter.

Wie müssen wir uns das vorstellen, wenn Sie eine neue Platte komponieren. Gehen Sie dann monatelang in Bibliotheken und schmökern in alten Schwarten?

Auch ein Musiker hat manchmal Bücher im Schrank stehen. Ich bin jemand, der gerne schmökert, alte Balladen liest und hier und da ein Lesezeichen hinterlässt. Ich musste also nicht bei Null anfangen. In diesem Zusammenhang kam mir auch das Internet zu Hilfe. Wenn man da „Mythologie“ oder „Ballade“ eingibt, gelangt man auf viele Spuren. Da habe ich bemerkt, dass ich nicht der einzige bin, der sich dafür interessiert.

Haben Sie einen Lieblingsdichter?

Das wechselt. Zur Zeit steht Heinrich Heine bei mir ganz oben auf der Liste. Er ist ein Mann der klaren Sprache. Da passiert es nie, dass man liest und liest und sich plötzlich fragt, wovon spricht der überhaupt? Heine war ein Jude, hatte eine Beziehung zu Hamburg, er war politisch und poetisch zugleich. Für mich ist Heine aktueller als viele meiner Zeitgenossen.

Oder Gibt es einen Dichter, an dem Sie sich versucht haben, der aber dann doch nicht Rockmusik-kompatibel war?

Agnes Miegel hat einen Text über die Niebelungen geschrieben, der ist wunderbar. Da sagte meine Frau: Oh toll, ein langweiliger Nachmittag bei Hofe. Die lümmeln da in ihren Gemächern und eigentlich passiert nichts. Das ist ein Text, bei dem ich mich aber doch veranlasst gefühlt habe, zu kürzen, und da wird es heikel. Weil ich näher bei den Geistern bleiben wollte, habe ich diese Niebelungen-Version erstmal auf Halde gelegt. Das Sklavenschiff von Heine wartet auch noch auf musikalische Bearbeitung. Da ist ein großer Realismus drin, da denke ich an die 30 Vietnamesen im Tiefkühllaster, die glauben, sie gelangen in die große Freiheit. Germanische Mythologie und Sklaventum sind aber doch etwas weiter voneinander entfernt, deshalb habe ich das Sklavenschiff nicht verwendet.

Tauchen denn beim Lesen der Klassiker in Ihrem Kopf schon die Melodien auf, die Sie später verwenden werden? Oder wann wird aus Literatur Musik?

Die alten Dichter haben ein Vermögen, Worte schon fast wie Musik erscheinen zu lassen - für des Musikers Ohr zumindest. Durch ihre Werke weht so eine Atmosphäre, eine ganz bestimmte Stimmung - und von da ist für mich der Weg zur Musik ein kurzer.

Sie haben sich ein wenig mit der Germanischen Kultur beschäftigt. Hat sich da für Sie etwas markantes, unverwechselbares herauskristallisiert?

Germanische Mythologie hatte je nicht nur für Deutschland eine wichtige Bedeutung. Das ist ein Welt- und Götterbild, das für ganz Europa Geltung hatte. Vielleicht wollten ja die Nazis die besseren Schweden sein (lacht). Zentral für mich ist, dass von den Germanen die Natur als Gottheit verehrt wurde, während wir heute eigentlich nur so tun. Für mich ist das die Basis des grünen Gedankens. Heute sind weniger die Parteien dafür zuständig, wie wir sehen müssen, sondern Umweltgruppen.

Der Wilde Wassermann ist nicht Rockmusik im eigentlichen Sinne. Sind Sie im reifen Alter zum Weltmusiker geworden?

Ich habe versucht, der musikalischen Erscheinungsform ein Gesicht zu geben, was eher auf einer Weltsicht-Ebene liegt. Es war nicht mein Anliegen, irgend etwas zu reanimieren, was uns irgendwann verloren gegangen ist, denn keiner weiß genau, wie es einmal war. In der Vermischung der Kulturen liegt ja das Interessante, und meine Band setzt sich aus Köpfen aus vielen Nationen zusammen. Wir leben ja in einer Zeit, wo halb Europa eine Währung hat, die Globalisierung uns näher zusammenführt. Wenn der Weltenbürger nichts aus seiner Heimat zu erzählen hat, dann ist er wohl eher ein langweiliger Zeitgenosse.

Für manchen sind Sie der Vater der deutschsprachigen Rockmusik. Haben Sie da was in Gang gesetzt, was Musiker wie Niedecken oder Stoppok weiterführen?

Wolfgang Niedecken macht keinen Hehl daraus, dass meine Musik für ihn inspirativ war, auch wenn er damit nur mein Kettenhemd meint, das er unbedingt haben wollte (lacht). Ich schätze so Leute wie Niedecken und auch Stoppok sehr, gerade deshalb, weil sie auf einer Schnittstelle funktionieren. Von solchen Individuen haben wir viel zu wenige.

Sie haben Anfang der 60erJahre mit den Rattles vor den Beatles gespielt. Wie ist Ihr Verhältnis zu den „fab four“ aus Liverpool?

In der alten St. Pauli-Zeit, der Hochzeit des Starclub, da waren die Beatles in Hamburg eine Band von vielen, sie waren ganz normale, zugängliche Jungs, mit denen man über alles reden konnte. Die Glorifizierung hat später eingesetzt, ich hatte das Glück, das beobachten zu können. Als Weltstars wurden sie dann zu Sklaven des Protokolls. Für mich ist es aber ein ganz wichtiger Punkt: Das waren ganz normale Menschen, und es hat Mut gemacht zu wissen, die kochen auch nur mit Wasser.

Morgenstern und Ringelnatz sind dankbare Dichter, die haben Sie schon in den 80ern neu aufbereitet präsentiert. Ist Mörike im Rockgewand nicht ein Wagnis?

Wenn mich etwas anspricht, da traue ich meinem Gefühl, da mache ich keine Anfrage beim Intellekt. Wenn man diesen Texten neues Leben einhauchen will, dann ist das Gefühl auch der bessere Ratgeber als das Dafürhalten eines intimen Werkkenners. Mich interessiert nicht, welcher Name unter einem Text steht, sondern das, was drinsteckt. So kann auch Mörike eine Überraschung sein.

Vineta gilt als Äquivalent von Atlantis - es soll eine versunkene Insel im heutigen Mecklenburg-Vorpommern sein. Glauben Sie an den Mythos?

Untergangsgeschichten faszinieren die Menschen immer, die Geschichte ist voll davon - Alexandria, Pompeji, Karthargo. In diesem Falle von Vineta fand ich das für mich zentrale Bild so bemerkenswert: Die Glocken bimmeln nach dem Untergang unter Wasser noch weiter. Den Vineta-Text von Wilhelm Müller (1794 - 1827) habe ich im Internet gefunden. Ob ich an den Mythos glaube? In jedem Fall ist er faszinierend und belebt die Phantasie.

Mit Belsazar, dem 500 v. Chr. von seinen eigenen Leuten ermordeten Kronprinzen von Babylon, tasten Sie sich an ein uraltes Thema. Was hat das mit heute zu tun? Halten Sie unsere Machthaber auch für größenwahnsinnig und hochmütig?

Das finde ich schon. Wenn man beobachtet, mit welcher kriegerischen Attitüde die Amerikaner versuchen, ihren american way of life dem ganzen Globus aufzudrücken, dann ist das ein Zeichen von Vermessenheit. Schlimm ist zu erkennen, dass hinter dem Krieg der Gegenwart allein wirtschaftliches Gebaren steckt. Wenn wir auf die politische Kaste nach Frankreich blicken, dann sind Grössenwahn und Hochmut Phänomene, die sofort ins Auge fallen. Ja, ich denke, dass sich in den zweieinhalb Tausend Jahren nichts Grundsätzliches verändert hat.

Ist Goethes Erlkönig eine Parabel, die wir auch heute in unserem Kontext lesen können?

Jeder liest den Erlkönig ja anders. Im Gegensatz zu vielen sehe ich da aber keine Kindesmißhandlung, sondern einen besorgten Vater, der versucht, sein krankes Kind der Rettung näher zu bringen. Der Erlkönig steht für den Tod, der unmissverständlich sagt: Bist du nicht willig, dann komme ich mit Gewalt, da hilft auch keine Tiefkühltruhe (lacht). Der Tod ist unabwendbar, diese Erkenntnis hat Goethe wunderbar verarbeitet. Was eigentlich vorgeht, macht meine musikalische Bearbeitung deutlich, indem die Stimme des Erlkönigs der Chor übernimmt.

Sie sind der Sohn eines Seemannes, und die rauhe Luft der Meere weht durch viele Ihrer Songs. Was macht den Seemann heute aus?

Was den Seemann früher und noch heute ausmacht ist die Erfahrung, in einer Nussschale das Meer so zu erleben, dass er rundherum nur Wasser sieht. Das kann dem Menschen dann klar machen, wie klein er eigentlich ist. Die Naturgewalt ist ein ungeheuer starkes Symbol. Wir sollten nicht vergessen, dass aus dem Meer alles Leben entstanden ist.

Die Ballade von der Loreley klingt bei Ihnen nach Bob Dylan. Wo sind Ihre musikalischen Wurzeln? In Amerika?

Natürlich haben mich Musiker wie Little Richard oder Elvis fasziniert. Im Falle der Loreley kann man es aber auch so sehen, dass die Melodie nach Amerika gelangt ist und so in andere Formen gelangte. Nachdem ich den ursprünglichen Dreivierteltakt in einen Viervierteltakt umgemünzt habe, kam eine Melodie hervor, die vielleicht so etwas ist wie die internationale Form der Folkmusik. Das Bandeon und die Mundharmonika sind ja eigentlich deutsche Instrumente, die ihren Siegeszug in anderen Teilen der Welt antraten. So ist alles im ständigen Wandel. In der Musik der Loreley steckt für mich der Hauch der Jahrhunderte, der auch bei einer Taktänderung nicht verloren geht.

Ist es ein langer Weg, wenn Sie aus einem Volkslied im Walzertakt eine dynamische Rocknummer machen, also ein Entfernen in Stücken, oder passiert die Metamorphose (wie beim deutschen Volkslied Nummer 1 Loreley) auf einen Schlag?

Es passiert auf einen Schlag, denn wenn ich von einem Text bezaubert bin, ist der Schritt zur Musik ganz klein. Ich halte nichts davon, zu lange an Melodien herumzudoktern. Man meint, Perfektion zu erreichen, aber die Sache wird meistens nur dünnblütiger.

Sie steigern mit zunehmendem Alter das Tempo. Ihre Kreuzung von Polka und Ska im Titelsong ist im Rhythmus kaum zu überbieten. Sind Sie ein Musik-Tüftler?

Die Möglichkeiten der Aufnahmetechnik finde ich heute faszinierend, weil ich aus einer Zeit stamme, in der es Mehrspurtechnik und Manipulation nicht gab. Früher war ich oft traurig, dass die Originalität, die wir auf dem Demotape hatten, einfach mit zwei Mikros aufgenommen, dann im Studio nicht mehr erreichen konnten. Die Technik kann aber auch dazu verleiten, sich selbst aus den Augen zu verlieren. Ich versuche immer, nah am Urspurungsimpuls zu bleiben. Der erste Gedanke ist meistens der beste.

Oh Nöck, was hilft das Singen Dein? heißt es am Ende in einer Zeile. Gibt es eine Antwort von Achim?

Musizieren und Singen kann eine echte Andacht sein, etwas Kultisches, ein Ritual, wo die Dinge verschmelzen und die gedanklichen Widersprüche verschwinden, wo alles zu einer Einheit gelangt. Bei den Texten ist es wichtig, dass man sich selbst nicht allzu sehr unter den Scheffel stellt. Vielleicht musste ich so alt werden, wie ich bin, um das erkennen zu können.

Achim Reichel, herzlichen Dank für das Gespräch.

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   BEISPIELE REISELITERATUR

Im Jahr 1994 sind auf einer Reise durch Senegal und Gambia Texte zu Afrika entstanden. Sie harren noch immer der Veröffentlichung. Geschichten und Miniaturen wechseln sich in „Ashi Baba – Ibory. Geschichten aus dem Senegal“ ab. Hier sind ein paar Beispiele:

Mikrokosmos Gorée

Man sagt dem Vulkanmassiv vor der Küste von Dakar ein Alter von 13 Millionen Jahren nach; doch erst seit die Portugiesen in den Felsen siedelten und begannen, Ackerbau zu treiben, ist die kleine Insel als Gorée bekannt. Die weitere Kolonialarchitektur der Spanier und Franzosen gibt der Insel einen südländischen Hauch, der im Senegal einmalig ist. Die Zeit steht in den Mauern. Ursprünglich wie der Stein sind auch die Bewohner.

Papis ist in den Tönen geboren; aufgewachsen ist er mit dem Djembétakt. Seit einer Weile ist er bemüht, Töne nicht nur zu produzieren, sondern auch zu malen.
Kambel ist in den Farben geboren; seine Mutter hat schon ein Batikatelier betrieben, wo er sich als Kind austoben konnte. Lange bevor er grün war, wußte er, was grün ist. Bis heute hat er in seinen Bildern diesen Vorsprung bewahrt.
Suleman ist in den Glauben geboren; dieser ist, seit er denken kann, die allgemeine Luft zum Atmen. Im lebendigen Wort, viel später erst in der Schrift. Denn der mündlich weitergegebene Glaube bestimmt das Leben. Mit Freunden kann er Stunden über die Auslegung einer Sure sprechen.
Ich entdecke eine ursprüngliche, ja erdverbundene Kultur auf Gorée: ein Mikrokosmos der senegalesischen Gesellschaft.

Les hommes, l'Afrique et le deportement. Ein Ölbild in vier Etappen, wie eine Schriftrolle, schildert chronologisch den Lauf der Geschichte des schwarzen Kontinents, vom Königreich in die Unterjochung durch die Kolonialherren. Ganz unten, desillusioniert die Schwarzen im Sklavenhaus auf der Insel Gorée; über die geschwungene Freitreppe in die lebenslange Knechtschaft. Denn von diesem Sklavenhaus gleich beim Hafen der Insel wurden die meisten Sklaven in die neue Welt verschifft.

Das erst grünrote Gemälde hängt an der Mittelsäule eines portugiesischen Kolonialhauses aus dem 18. Jahrhundert, nur wenige Minuten vom Sklavenhaus entfernt. Das Haus besitzt nur noch einen halben ersten Stock, das Dach fehlt gänzlich, doch oben ausgelegte Matten sorgen im Erdgeschoss für Schatten. Vier Maler haben dieses ramponierte Traumhaus direkt am Meer und mit Blick auf Dakar besetzt. Es ist Atelier und Wohnzimmer, Treffpunkt und Galerie zugleich. Und spartanischer Gastraum.

Beim Tee preisen sie Leo Frobenius, den deutschen Afrikareisenden und Ethnologen, der durch seine Aufzeichnungen, die er vor über hundert Jahren begann, ein neues Bild von Afrika entworfen hat. Ich freue mich, daß ihnen der Meister mit der pathetischen Sprache bekannt ist. Frobenius hat Tänze beobachtet, Fetischisten studiert, mehrere Monate mit verschiedenen Stämmen gelebt. Mit einem immer größer werdenden Tross ist er zwölfmal durch Afrika gezogen. Dabei hat er, so Suleman, die wesentlichen Aspekte der schwarzen Kultur für den weißen Mann entdeckt. Entgegen der Annahmen der Kolonialherren hat er eine große afrikanische Vergangenheit nachgewiesen, die uns Schwarzen ein Stück Würde und Stolz zurückgegeben hat. Seinem Eifer ist es zu verdanken, ergänzt Papis, daß die übrige Welt begonnen hat, sich nicht mehr kulturell über Afrika zu erheben. Statt theoretisch zu behaupten, habe er empirisch geforscht. Frobenius hat nicht nur das tägliche Leben dargestellt, sondern auch viele Erzählungen afrikanischer Stämme gesammelt und veröffentlicht. Er war eine rühmliche Ausnahmeerscheinung neben den weißen Kolonialherren, die mit ihrer unmenschlichen Politik auch große Teile der Kultur Afrikas ausradierten. - Die Fliegen fliegen, die Wellen rauschen, die Zeit steht fast still auf Gorée.

Auf einem kleinen Gang über die Insel treffe ich einen jungen Franzosen mit schütterem Haar und spitzer Nase. Ich stehle Farben, sagt er, und drückt im Vorbeigehen seine Spezialfolie an die rötlichen und gelben Hauswände. Viele sind deutlich verblasst, doch ohne Verlust schimmern die Töne in seiner postmodernen Farbsammlung. In seiner ungewöhnlichen Sammelleidenschaft hat er noch einen Bezug zum Ursprünglichen, die seinen fünf Landsleuten, die ich wenig später unter dem zentralen Affenbrotbaum antreffe, gänzlich abgeht. Ihr Filmen fußt nur noch auf der Illusion. Ihre Werbefirma hat sie allein deshalb nach Gorée geschickt, damit sie Werbeaufnahmen für eine Margarine machen. Die neugierigen schwarzen Augen pflegen sie mit Klatschen und fuchtelnden Händen in die Flucht zu treiben. Die Arroganz des Ex-Kolonialherren ist unbeschreiblich ... Erst oben auf dem Plateau herrscht Ruhe. Ich raste bei einem jungen Baifal und genieße mit ihm die weite Aussicht über das Meer, bis er mich die Stufen hinunter in sein Antiquitätengeschäft führt. Eingerichtet hat er es in einem niedrigen, aber kühlen Bunker, den die Franzosen auf der Insel zurückgelassen haben. Viele Gegenstände hat er auf der sandigen Erdoberfläche der Insel gefunden. Ein rostiges zierliches Rad mit Speichen etwa, in das eine Figur eingearbeitet ist, oder ein kleiner ovaler schließbarer Aschenbecher, dessen Stahl mit feinen Gravuren versehen ist. Atome erzählt mir kurze Geschichten zu allen Meisterwerken, an denen mein Auge hängen bleibt. Es sind uralte Kleinode mit feinen Schnitzereien, heilige Objekte, teilweise versehen mit kostbarem Schmuck. Sogar eine hölzerne Tanzmaske lehnt an der Wand. An der Stirn sind Knochen der Vorfahren mit Blut befestigt. Eine Sandschicht verstärkt noch den furchteinflössenden Eindruck, den die Maske hinterlässt. Die Sorgfalt und Genauigkeit, mit der alle Stücke gefertigt sind, zeugen von der schlichten stilistischen Pracht, mit der der Afrikaner alle wichtigen Dinge des Lebens gestaltet. Der Schwung einer Linie ist hier eine Liebeserklärung an die Welt. Die Lebensfreude Afrikas spiegelt sich im Schmuck.

In die Galerie zurückgekehrt, sitzen die Maler zu klassischer Musik aus dem Transistorradio bei der Arbeit. Beethoven im Senegal. Suleman Dao, Mitte dreißig und mit Spitzbart, hockt auf einem runden Stein an der Wand und beugt sich über ein Leinquadrat, das er kurz zuvor ausgeschnitten hat: Vor einem Zelt finden sich da drei Tanzende am Feuer, die ihre Arme in die Luft werfen. Die violetten Tänzer wirken konzentriert und wie gebannt. Tanz ist Leben, Leben ist Tanz, sagt Suleman.

Kambel Dieng, mit Ende dreißig der talentierteste unter ihnen und gleichzeitig der herzlichste, sitzt in einem abgesägten weißen Plastikstuhl auf einem der schwarzen Steine, wie sie draußen mannigfach herumliegen. Wie die Pigmente, oben auf dem Inselplateau. Mit ihnen stellt er seine Farben selbst her; besonders die rostbraunen und grünen Töne wirken einzigartig. Auf dem Boden entsteht ein schwarzbraunes kubistisches Schemenbild mit afrikanischen Gegenständen, zwischen Picasso und Braque. Aber Kambel interessiert sich nicht so für die anderen; auch Kandinski und Turner, an die hinten hängende Bilder von ihm erinnern, kennt er nicht. Wie jeder echte Künstler, malt er aus sich heraus und muss alles, was andere zuvor schon für sich gemacht haben mögen, für sich selbst erschaffen. Die Kunstgeschichte irritiere ihn da eher, als daß sie ihn inspiriere. Kambel grinst, springt aus dem Fenster und geht Wasser lassen. Mir kommt eine Strophe von Gottfried Benn in den Sinn:

Als ihm graute schuf er einen Fetisch
als er litt, entstand die Pietà…
als er spielte, malte er den Teetisch
doch es war kein Tee zum trinken da.

Draußen an der Flurwand hängt ein Sicherungskasten der ersten Stunde. 1920er Jahre. Zwei Zähler, drei Buchsen und allerhand Stoffkabel ragen heraus. Die rostiggelbe Patina macht das Brett zum Objekt, denn Strom spendet die Installation schon lange nicht mehr. Auch wenn der schwarze Bakeliteknopf weiter auf Marche steht. Doch dieser Kasten zählt zu den Schönheiten, die die Jahre von ganz alleine bescheren. Zeit arbeitet. Kambel auch. Drei, vier Bilder produziert er am Tag, in verschiedenen Rhythmen, Phasen größter Geschwindigkeit und Kreativität, wie daneben auch der Ruhe und Meditation. Überall hängen und flattern seine unaufgezogenen Leinwände - und nichts ist schwerer, als einen einheitlichen Stil festzulegen. Gleichwohl tragen die Bilder Kambels eine eindeutige und allen Verschleierungen zum Trotz klare Handschrift.

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Handlich

Nicht selten fällt mir beim Handschlag auf, daß mein Gegenüber mir nicht in die Augen sieht, wie es für meine Begriffe selbstverständlich ist. Es mögen windige Kerle ohne viel Anstand darunter gewesen sein, doch häufig ist es nichts anderes als eine Geste des Respekts.
Die stille Schmäh die du ertest kann größer kaum sein, als wenn du in Essensangelegenheiten die Linke zu Hilfe nimmst.
Das viele Händeschütteln haben die Senegalesen von den Franzosen gelernt. Es ist nicht nur bei Auftritten und Abgängen en vogue, sondern auch bei Komplimenten, scharfsinnigen Bemerkungen: schlicht bei Einigkeit insgesamt.
In meiner Kindheit hat mir ein schwarzer Bekannter beigebracht, wie man beim Handschlag mit Daumen und Mittelfinger schnalzt. Das gefiel mir außerordentlich. Der Onkel sagte, daß sich die Menschen in Westafrika so begrüßen. Je lauter es schnalzt, desto höher wäre die Freundschaft einzuschätzen. Doch zur Begrüßung wird im Senegal heute sehr selten geschnalzt. Nur noch bei spontaner Begeisterung, oder wenn es ein Taxi anzuhalten gilt - aber dann mit der Zunge.
Männlein und Weiblein sieht man hier nie Hand in Hand. Doch die Frauen miteinander, und viel öfter noch ausgewachsene Jungs, die gar nicht dran denken, schwul zu sein.
Anhänger einer religiösen Bruderschaft sind leicht zu erkennen. Als ehrfürchtiges Zeichen verbeugen sie sich und führen die Hand des Gegenübers zweimal von Stirn zu Stirn.
Bei den Kindern ist der Handschlag Symbol einer neugierigen Annäherung. Hat der Bub im gelben Dress oder das Mädel mit den Minipalmen im Haar den Anfang gewagt, so stürmt ein strahlendes Rudel auf mich zu und umringt mich mit winzigen Händen. Bonjour Toubab.

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Auf die Groschenmacht

Orangen, recht kernig und kunstvoll geschält
presst du dir hier mit der Hand in den Mund
geköpft werden sie aus einer Karre verkauft
die auch birgt Kokosstücke und Mangoschlitze
Erdnüsse gibt es gesüsst und gesalzen
die in Plastiksäckchen der Standardsnack sind
die Versuchung, sie wartet hier an jeder Ecke
mit einem Groschen bist du für all dies dabei
und auch Beutel voll Eis, manchmal rot gefärbt
reichen dir Schwärme von Kindern ins Auto beim Reisen
die Zigaretten, die Papers, selbst die Knoblauchzehen
werden an wandelnden Ständen einzeln verkauft
in Stückchen die Butter, ein Pfund kriegt hier keiner
ganz bleibt oft nichts als die Dosenmilch
häppchenweise ziehst du hier deine Kreise
was dem Armen, dem Händler und dem Reisenden genehm
ein Messingstück - und das Leben geht weiter
für den Senegal ist dies ein humanes System

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Die Teezeremonie

Über welche Schwelle man auch immer tritt, der Tee ist gerade in Vorbereitung, oder er wird sofort angegangen, sobald ein Fremder in der Hütte steht. Denn die Teezeremonie ist im Senegal eine Versammlung der besonderen Art.

Ist es in diesen Breiten ursprünglich die älteste Tochter, die den ersten Tee nach dem Mittagessen zubereitet, kommt es inzwischen öfters vor, daß auch jüngere Schwestern oder Brüder sich der ausgefeilten Gießtechnik als kundig erweisen. Zuerst gilt es, Kohle in einem kleinen Grill so zu erhitzen, daß er eine verlässliche Feuerstelle bildet. In die Glut wird eine kleine, meist blaue Blechkanne gestellt, die mit einem Glas grünem chinesischen Tee und mit fünf Gläsern Wasser bis zum Rand gefüllt ist. Kocht der Tee, wird er in hohem Bogen in die kleinen Gläser geschüttet, um immer wieder in die Kanne zurückzukehren, wo er noch einige Minuten vor sich hinköchelt. Wenn in den Gläsern etwa ein Zentimeter Schaum steht, schenkt der Zeremonienmeister den gesamten Inhalt in die Gläser, die jedoch nur zur Hälfte gefüllt sind. Was nicht das Tablett benetzt, ist während der Umgießarbeiten verdampft. Die erste Runde ist bitter wie der Tod, sagt man im Senegal.

Da in der Regel mehr Trinkwillige als Teegläser am Platze sind, rotieren die Gläser, die von den Amateuren zügig in vielen kleinen Schlückchen ausgetrunken werden. Traditionellerweise werden die Gläser auf dem Boden zum Teemeister zurückgerollt, das schlichte Herüberreichen setzt sich aber immer mehr durch. Die zweite Runde ist mild wie die Freundschaft, was der gehörigen Zuckerportion zu verdanken ist, die dem alten Tee in der Kanne beigefügt wird. Nach dem ersten Aufkochen veredelt frische Minze, wie sie in Marokko zu jedem Glas gehört, das begehrte Heißgetränk. Die geschickten Umfüllarbeiten vermindern nicht nur die Temperatur des Tees, sie sorgen auch für die ideale Verteilung des Süßstoffs.

Die dritte Runde köchelt am längsten vor sich hin; reich an Zucker ist sie die Begehrteste, süß wie die Liebe, wie der Senegalese sagt. Verbergen kann der Tee jetzt nicht mehr seine beflügelnden Eigenschaften als Aphrodisiakum. Entspannte Blicke, witzige Gespräche, ja feurige Tänze entbrennen mit der letzten Runde. Zu knabbern wird während der Zeremonie nichts gereicht, Photoalben dagegen sehr gerne. Darin strahlen allerhand glückliche Paare im Freitagsstaat und herausgeputzte Mädchen, Kinder und die Alten – alle Genereationen finden sich hier wieder. Auch eine Youssou N'Dour-Postkarte taucht häufig auf. Dieser Musiker aus dem Volke ist der Held aller jungen Senegalesen. Die Seite mit seinem Konterfei ist besonders klebrig im Album.

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Ibou le Grand auf Tour

Ibou läuft mit großen Schritten die Strandpromenade entlang. Die Sonne scheint, es ist heiß auf Gorée, doch Ibou trägt drei T-Shirts übereinander. Das originellste obenauf, vielleicht gibts dafür ja Interessenten. Seine Dreadlock-Mähne zähmt eine voluminöse Strickmütze in den Nationalfarben des Senegal, was gleichzeitig auch die Farbgebung der Fahne der Rastas ist. Ibou ist hoch emporgewachsen, er misst an die zwei Meter, und sein schaukelnder Gang strotzt vor Dominanz. Matt wie Seide glänzt die dunkelbraune Haut. Sein großer Mund, bis zu den Backen hinauf von wildem Haarwuchs umrankt, ist nie um ein Sprüchlein verlegen.

Auf der Insel gibt es niemanden, den er nicht kennt, weshalb kein Neuankömmling seinem scharfen Blick entgeht. Selbst wenn der Fremde noch einige Meter von ihm entfernt und vielleicht mit ganz anderem beschäftigt, wird er von Ibou mit der rauhen, tiefrauchigen Stimme angerufen. Bonjour, ca va, vous aimez l'Isle? May I show you the art gallery? Kommen Sie, ich führe sie in das Geschäft meines Bruders. Doch sein Begehr ist es nicht nur, die Touristen, deren Status er ihnen gerne vorzuhalten pflegt, süffisant lächelnd versteht sich, um ein paar Scheinchen zu erleichtern, Ibou liegt auch daran, mit all seinen Kumpels, den Jungs und den Freunden, kleine und große Geschäfte zu machen. Und zwar nicht im Hinterstübchen, sondern ganz offen am Wegrand. Die Fischhändlerin, die im Schatten des Affenbrotbaumes ihre Ware grillt, zählt wie der Restaurantkellner oder das kleine Bürschchen im Boulangerie-Verhau zu seiner regelmäßigen Klientel.

Die drei Bereiche von Ibou le Grand stehen schon lange fest: Es geht um Kleidung und Schmuck, also Handwerk von der Insel oder aus Dakar, danach um bewußtseinserweiternde Substanzen, und schließlich um schlichte Nahrungsmittel. Alles, wozu Ibou Zugang hat, oder wozu er sich durch Chuzpe, Dreistheit und Bestimmtheit Zugang verschafft, ist in ständiger Bewegung. Der seltene gelbe Stein als Krönung einer Kette - nein, die fünftausend, die ihm eine alte Insulanerin bietet, sind wirklich zu wenig. Gib mir mal zwei Croissants...jaja, ich zahle morgen - und flugs ist er um die nächste Ecke gebogen. Die Verhandlungen sind mitunter laut, und zäh, und langwierig; aber so gut wie nie geht Ibou als Verlierer vom Schauplatz ab. Er bekommt, was er will, egal, ob die anderen das nun wollen oder nicht. Die Flüche, die manchmal auf ihn einpeitschen, pariert er lächelnd, mit Ruhe und Eleganz. Es ist die Siegesgewißheit, die Ibou so stark macht. Er betrachtet seine Wanderungen durchs Inseldorf als einen sich ständig wiederholenden Triumphzug. Und sein Triumph liegt in nichts anderem begründet, als in der Cleverness, mit der seine Kommunikationsfreudigkeit versehen ist.

Seinen großen, durchdringenden Augen bleibt nichts verborgen, alle Güter, die wo auch immer zum Vorschein kommen, werden in ihrem möglichen Tausch- oder Verkaufswert eingeschätzt. Und haben seine Hände erstmal das Erhaschte ergriffen, befindet es sich unwiederbringlich im Ibouschen Warenarsenal. Mit Geschick und Versprechungen, die er selten hält, ist Ibou auch der Hinauszögerungskönig. Meine Kamera, die er mir, wir kannten uns gerade ein paar Stunden, um ein Photo willen aus der Tasche geschwatzt hat, befindet sich noch heute als Faustpfand für Ibouschulden in den Händen eines Schacherers aus Dakar. Morgen, morgen, das machen wir schon klar. Das spricht er auf deutsch, denn dieser 32jährige Bär, der aufgrund der Umstände auf Erden nicht seiner zugedachten Aufgabe als Seeräuberhauptmann nachkommen kann, hat acht Jahre in Köln gelebt. Zwei Kinder hat er gelassen, den Namen seiner Frau genommen. So kommt er zu dem märchenhaften Namen Ibou Moustapha Richter.

Doch er gibt sich auch mit Kleinigkeiten zufrieden. Eine Zigarette für den Weg, oh zeig mal das Feuerzeug, und schon ist es in seiner Tasche verschwunden. Gib mal einen Schluck Wasser - und in zwei Zügen hat er den von Bakterien befreiten Wasservorrat geleert. Ah, du machst da Tabletten rein... – und schon will er sie haben, um sein Warenarsenal zu vergrößern. Auf Einsprüche reagiert er, wenn sie nicht bald verstummen, latent ungehalten, und wendet sich, im entscheidenden Moment der Rede, einem Kumpel zu, der mit Handschlag begrüßt, des Weiteren dann ausgenommen wird. Er kennt sie alle, sie alle kennen ihn, rufen Ibou le Grand und zollen dabei Respekt. So dauert die Runde durchs Dorf an Ibous Seite zwei Stunden.

Ibou hat, zweifelsohne, ein Gespür für die Haltbarkeit der Fäden, mit denen er hantiert. Kurz bevor einer zu reißen droht, knüpft er behende einen kleinen Knoten, der sein Flechtwerk in die nächste Reihe rettet. Ihm macht wohl allein deshalb niemand mit der Schere kurzen Prozeß, weil Ibou sich in Momenten, wo eigentlich niemand damit rechnet, als umsichtig und generös erweist. Er schmeißt so selbstverständlich, wie er anderen die Nüsse aus der Hand klaubt oder seinen Löffel in das Cous-Cous des einsam Essenden taucht, urplötzlich eine Runde Zigaretten, lädt mich auf Fisch und Cola ein oder organisiert mir, nach einer gehörigen Magenverstimmung, von der Nachbarin einen lindernden Tee, den Tisane. Aus dieser latent naiven Dankbarkeit, die er in generösen Moment erhält, speist er die Toleranz, oder wenigstens die Duldung seiner weiteren Machenschaften.

Man kann diesem lachenden muskulösen Hünen deshalb nicht ernstlich böse sein, weil er nicht anders kann. Ibou handelt seiner Natur gemäß, die es erfordert, handelnd immer in Aktion zu sein. Stillstand bedeutet für Ibou das Ende. Also ist Bewegung das Elexier: Hier bekomme ich noch zweihundert, da habe ich einen Schal im Kommission, und da drüben habe ich noch zwei Fische gut. Reicht die Insel nicht mehr, begibt sich das Schlitzohr nach Dakar. Und vorzugsweise nimmt er seine kurzfristigen Geldgeber dorthin mit.

Ibous spröder Charme umgarnt den Fremden. Gewinnt er ihn, so steht diesem ein volles Programm bevor. Es ist zwar sicherer, aber doch ein Verlust, wenn man sich Ibou ganz entzieht.

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   EIGENE BILDER

Florian Koch macht seit 1998 auch eigene freie Fotoarbeiten. In 7er-Zyklen erschließt er sich mit dem Medium Digitalfotografie immer wieder neue Aspekte unserer zersplitterten Welt. Ein Blick auf diese Reihe lohnt sich, denn alle paar Monate kommt ein neuer Zyklus hinzu.

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